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Denkräume: Ausstellen als letzte Disziplin des Co-Design

Essay
Denkräume: Ausstellen als letzte Disziplin des Co-Design
by Barbara Holzer

Museen werden oft eher als antiquiert wahrgenommen. Die Statistik bestätigt dieses Klischee allerdings nicht, sie weist den Museumsbesuch in der Schweiz aktuell als beliebteste kulturelle Aktivität aus. Welche Aufgaben haben Museen und inwiefern nehmen sie diese bereits wahr? Neben dem klassischen Auftrag des Sammelns und Vermittelns hat ein Museum heute noch weitere und komplexere gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen.

Das Museum als soziales Gefäß

Um möglichst viele Menschen zu erreichen, muss das Museum von heute »sein Haus« verlassen, soziale Barrieren oder Hindernisse abbauen und sich einem heterogenen, multikulturellen Publikum öffnen. Als Ausstellungsmacher müssen wir uns immer wieder fragen, wie wir Grenzen auflösen und Ausstellungen niederschwellig gestalten können. Jeder Besucher sollte sich willkommen fühlen. Nicht nur der versierte Blick soll zelebriert werden — der Raum, die Werke und ihre Narrative sollen allen Besuchern näher gebracht werden, unabhängig von deren individuellem Hintergrund und Vorwissen.

Das Museum von heute ist eine Plattform, die dem Wissensaustausch dient — und zwar in viele Richtungen. Nicht nur das Publikum lernt vom Museum, auch das Museum lernt vom Publikum. Unser Verständnis von einem Museum ist deshalb zutiefst anti-hierarchisch: Wir suchen den Dialog mit dem Publikum. Der ­Begriff des Co-Space ist für die Institution Museum zutreffender, als für manche andere Einrichtung: Das Museum als lebendiger, emotionaler, gemeinschaftlicher und stetig im Wandel begriffener Ort ist ein Ort der Multifunktionalität, Multikulturalität und des Miteinanders.

Ausstellungen können und sollen den Ort des Museums auch immer wieder verlassen. Für die Ausstellung Realstadt, die sich mit dem Thema von Stadtutopien beschäftigt, haben wir einen geeigneten Ort außerhalb eines Museums gesucht und gefunden: das ehemalige Kraftwerk in Berlin Mitte. Der authentische Ort — eine Ikone für Infrastrukturbauten — wurde somit selbst zum eindrücklichsten Exponat und zum großen atmosphärischen Setting für eine unglaubliche Vielzahl von Architektur­utopien. Diese waren die Folge eines öffentlichen Aufrufs, eines partizipativen und kuratierten Verfahrens, das es ermöglichte, ein Kaleidoskop von nie gesehenen Architekturen zusammen auszustellen. Die Besucher tauchten in die industrielle Ruine, mischten sich unter die Modelle und Objekte, füllten den Raum und wurden selbst Teil der ungewöhnlichen Inszenierung.

Der narrative Co-Raum

Wir leben am Anfang des digitalen Zeitalters. Was heißt das in Bezug auf Wahrnehmung und Kommunikation, spielen sie im Museum eine zentrale Rolle? Die Wahrnehmungsgewohnheiten und -fähigkeiten des heutigen ­Publikums unterscheiden sich substanziell von denen vor 10 oder 20 Jahren. Wir sind mittlerweile gewohnt, simultan auf verschiedenen Kanälen auf Empfang zu sein. Im Zuge der Digitalisierung ist die Überlagerung von physischem Ort und digitalem Raum zur Norm geworden. Was technisch machbar und möglich ist, hat sich stark erweitert und vereinfacht. Die neuen Medien erlauben vielfältige und individuelle Vermittlungsstrategien: Das Publikum wählt seine Präferenzen in Bezug auf das jeweilige Thema, die Erzählformen sind multiperspektivisch — gleichwohl bleibt das originale Objekt in seinem räumlichen Setting der Ausgangspunkt jedes Besuchererlebnisses. Weil Museen historische Objekte immer nur aus ihrem Zusammenhang herausgelöst — also dekontextualisiert — zeigen können, füllt beispielsweise die Technik der Augmented Reality eine Lücke, die sonst der Vorstellungskraft der Besucher überlassen werden muss. Die Überlagerung des realen Objekts mit einer virtuellen, kontextuellen Ebene trägt zur Veranschaulichung der Narrative bei. Die Objekte können animiert und dadurch aus dem statischen in einen bewegten Moment überführt werden. So kann Wissen vielschichtig und teilweise sogar individualisiert vermittelt und wahrgenommen werden.

Das Ausstellen von archäologischen Funden verlangt umfassende Erläuterungen. Scherben, Knochen oder Holzstücke verraten wenig über sich selbst und die längst vergangenen Zeiten, aus denen sie stammen. In den beiden von uns gestalteten Besucherzentren Arche Nebra oder paläon — Forschungs- und Erlebniszentrum Schöninger Speere steht das Narrativ im Vordergrund. Durch die Überlagerung der realen archäologischen Funde mit Modellen, Animationen oder Illustrationen wird die Vorstellungskraft der Besucher getriggert und Geschichte wird erlebbar.

Kollektive Intelligenz

Ausstellungsgestalter sind im Bezug zum jeweiligen Ausstellungsthema eigentlich immer Laien. Die Zusammenarbeit mit Menschen aus den unterschiedlichsten Disziplinen stellt sie vor immer wieder neue Herausforderungen. Gerade die Verknüpfung dieser multiplen ­Perspektiven und Interessen auf ein zentrales Motiv macht den Prozess der Ausstellungsgestaltung einzigartig: Wissenschaftliche, historische, architektonische, kuratorische oder konservatorische Aspekte (um nur einige zu nennen) beeinflussen die Gestaltung teilweise maßgeblich. Ausstellungsgestaltung bedeutet also nicht nur Raum- und Vitrinengestaltung, sondern umfasst vieles mehr: von inhaltlicher Konzeption, über Objektauswahl bis zur Definition von Vermittlungsstrategien. Die Moderation aller Beteiligten spielt somit eine ebenso bedeutende Rolle im Prozess der Gestaltung wie die Choreografie der Exponate. Es geht um Priorisierungen und Schärfungen, denn die Übersetzung der inhaltlichen Konzepte in den realen Raum macht sichtbar, was geht und was nicht. Die erfolgreichsten Ausstellungen entstehen immer mit der größtmöglichen kollektiven Intelligenz.

Die neue Gestaltung der Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald zeigt die Komplexität der Profession deutlich: Hier treffen viele Ebenen von Gestaltung und Vermittlung zusammen. Es geht um das Erinnern, das Gedenken, aber auch um Information. Der Ort selbst, das ehemalige Gelände des Konzentrationslagers, ist Zeuge des unvorstellbaren Grauens. Unzählige Bodenfunde wie Knöpfe, zerstörte Kämme und Brillen deuten auf das verheerende Schicksal der vielen einzelnen Menschen. Die Ausstellung zeigt auf, schafft in Gedenken an die Opfer Orte der Kontemplation, macht Brüche sichtbar, schafft Irritationen und lässt Denkräume entstehen — die Leerstelle, die das dunkle Kapitel der Geschichte hinterlassen hat, wird spürbar und die Reflektion über das Geschehene erhält ihren Raum.

Elemente einer Ausstellung

Der Raum ist Ausgangspunkt jeder Ausstellungsgestaltung. Jeder Raum bringt gewisse Eigenschaften mit, auch wenn diese mal augenscheinlicher, mal zurückhaltender sein mögen. Den »leeren Raum« gibt es nicht. Wie damit umgegangen wird, ist immer eine Entscheidung, die eine inhaltlich-symbolische Tragweite hat. Wird die Architektur selbst in Szene gesetzt oder durch einen neuen räumlichen Eingriff überlagert? Was unsere Ausstellungsräume eint, ist die Idee einer gewissen Installationshaftigkeit. Unsere Inspirationen finden wir häufig in der Kunst. Künstlerische Interventionen berühren, irritieren und involvieren das Publikum. Bei der Gestaltung von Ausstellungen steht für uns das Setting von Objekten im Raum und somit die atmosphärische Wirkung immer an erster Stelle. Ausstellungen sind nie »für die Ewigkeit«. Es gibt immer einen ephemeren Aspekt. Die Aktualität von Themen und ihre Erzählformen verändern sich über die Zeit. Und auch Objekte und Dinge reisen um die Welt, werden an den unterschiedlichsten Orten präsentiert.

Die Ausstellung REN. Good Guys — Good Design spielt mit der Ästhetik der ­Objekte. In einer »Wolke« begegnen sich zeitgenössische Designobjekte aus China und der westlichen Welt und »kommunizieren« mit­einander. Es entstehen neue Objekte, neues Design, ­sowie Unikate, die speziell für diese Ausstellung in Beijing entwickelt wurden, wie z.B. ­eine großformatige Wandtapete als atmosphärischer und ästhetischer Auftakt: Neu ­interpretierte asiatische Motive und Farben mischen sich mit westlicher Textilkunst.

Der Dreiklang von Objekt, Präsentation und Raum definiert den Gesamteindruck einer Ausstellung, generiert den ersten Eindruck und bestimmt das Narrativ. Die inhaltliche Vermittlung folgt immer erst an zweiter Stelle. Wir glauben an die ästhetische Wirkung einer Ausstellung. Wir wollen Räume erzeugen, die einen hohen ästhetischen Wert haben und ­deren Funktion genau darin liegt, eine Atmosphäre zu erzeugen. Unser Anspruch ist es, ­eine Aussage zu präsentieren, eine Haltung einzunehmen, die über eine bloße Erklärung oder wissenschaftliche Vermittlung hinausgeht. Wir wollen keine generischen Lösungen produzieren, sondern maßgeschneiderte Formate finden, die den Objekten, Inhalten und  Geschichten, die wir erzählen wollen, gerecht werden.

Bei der Gestaltung des dänischen Pavillons für die Biennale in Venedig 2016 haben wir für die Präsentation einer Vielzahl von Architekturmodellen ein mehrgeschossiges Gerüst entwickelt und dieses — fast wie ein Hochregallager — mit den Modellen aufgefüllt. Die Besucher erklommen das Gerüst über Stege und Treppen. Dabei entstanden immer wieder neue, abwechslungsreiche Perspektiven und Blickpunkte. Die Modelle waren überraschende Begegnungen auf dem Weg durch den Raum.

Autonomes Publikum

Anders als Bücher sind Ausstellungen nicht ­linear; sie sind räumlich, man steht mittendrin, man spürt und erlebt sie. Ähnlich wie ein Film weisen unsere Ausstellungen eine Dramaturgie und ein Drehbuch auf, aber das Publikum kann sich darin frei bewegen und den zeitlichen Ablauf selbst bestimmen. Je nach Zeitbudget oder Interesse tauchen die Besucher selektiv in tiefere Schichten ein. Durch ein Auffächern der Informationsebenen können die verschiedenen Interpretationen zum Thema und den gezeigten Exponaten so vermittelt werden, dass nicht die Objektivität der Information im Vordergrund steht, sondern der Kontext von Ort, Zeit und Autor. Statt Botschaften zu vermitteln, werden Denkräume ­geschaffen. Dieser Schritt macht eine Ausstellung zur öffentlichen Plattform und innerhalb eines Museum zum Ort des Diskurses. Im Sinne eines demokratischen Co-Labs wollen wir die Autonomie der Besucher ganz bewusst stärken. Wir bemühen uns in der Regel um ­einen bewussten Bruch mit konventionelleren Rastern und Strukturen. Besucher sind heute im Allgemeinen gut informiert und benötigen keine Führung mehr im klassischen Sinne. ­Unsere Ausstellungen tragen diesem Umstand Rechnung, indem auf räumliche wie interpretatorische Vorgaben zugunsten von multiper­spektivischen und mehrdimensionalen Ansätzen verzichtet wird.

Eine starke räumliche Intervention prägte die Ausstellung Heimatkunde im Jüdischen Museum Berlin. Die bestehenden Raumproportionen wurden durchbrochen, indem in den barocken Altbau eine Art White Cube eingepasst wurde, der eine partielle Verdoppelung der Ausstellungsräume erzeugte. Der neue Raumkörper wurde zusätzlich leicht ­gedreht und gekippt, was beim Betreten des Raums zunächst Irritationen auslöste.

Verfremdungseffekt durch Abstraktion

Unser Umgang mit dem Raum setzt sich in der Handhabung der Exponate fort. Originale Objekte erfahren in Ausstellungen eine Dekontextualisierung, sie gelangen ins Museum und befinden sich in einem Zusammenhang, in dem sie so nie gestanden haben. Interessant wird es, wenn diese neue Umgebung bewusst eingesetzt wird. Ein gewisser Verfremdungs­effekt durch Abstraktion kann neue Perspektiven eröffnen. Es gibt natürlich auch »Popstars« unter den Exponaten, die aufgrund ihrer ­Bekanntheit sowieso publikumswirksam sind. Die Herausforderung liegt bei den auf den ersten Blick unspektakulären Objekten, die mit geeigneten Mitteln ebenso wirkungsvoll inszeniert und wahrnehmbar gemacht werden können. So kann die Architektur den in ihren Räumen ausgestellten Gegenständen eine ganz besondere Aufmerksamkeit verschaffen.

Im Militärhistorischen Museum in Dresden erlaubt es die Architektur von Daniel Libeskind, Objekte ganz anders zu präsentieren: Die an die gekippten Wände installierten »Fahrzeuge« eines Kinderkarussells oder der in einem schachtähnlichen Luftraum nach ­unten stürzende Hubschrauber greifen die expressive Formensprache der Architektur auf und verstärken diese.

Oft besteht eine gewisse Scheu, starke ästhetische Bilder zu kreieren, wenn es sich um Originalexponate handelt. Aber warum soll auf eine emotional berührende Installation oder performative Darstellung verzichtet werden? Wir glauben nicht, dass sich Authentizität und Inszenierung gegenseitig schwächen oder sogar ausschließen. Letztlich geht es immer darum: Wie kann man Besucher triggern, wie ihre Sinne schärfen? Faszinierende oder irritierende Raum-Bilder animieren dazu, Dinge zu ­entdecken und sich mit einem Thema auseinanderzusetzen. So kommt es vor, dass ein unerwartetes Medium zum Träger der Exponate wird: Bei der Ausstellung REN diente ­eine aus Einweg-Essstäbchen erstellte Drachenskulptur als Präsentationslandschaft für die Exponate. Hier wird deutlich, dass wir für jede Ausstellung ein übergeordnetes Gestaltungsbild entwickeln, welches das Besucher­erlebnis maßgeblich prägt und eine räumliche Klammer für sämtliche Narrative bildet. Dieses Setting funktioniert wie ein Filter — sowohl ­ästhetisch als auch inhaltlich — und wird zum Markenzeichen jeder Ausstellung.

Die Gestaltung von Ausstellungen bleibt also eine der letzten Disziplinen, bei der trotz wachsender Spezialisierung und immer komplexerer technischer Anforderungen ein generalistischer Ansatz gleichzeitig Voraussetzung und Methode ist: Szenografen sind gleichzeitig Moderatoren, Gestalter und erste fiktive Besucher. Nirgendwo in der Raumgestaltung ist die Reaktion auf Inhalt, Form und Raum so unmittelbar wie hier. Dieses Erlebnis soll allen zugänglich sein. Deshalb fordern wir die Öffnung der Museen, in und an denen wir arbeiten.

Erschienen in der DETAIL Inside 02/11/2017

Credits

© Jonathan Leijonhufvud, © Jan Bitter, © Jan Bitter, © Jan Bitter, © Jan Bitter, © Jonathan Leijonhufvud, © Jan Bitter, © Jan Bitter, © DAC, © Holzer Kobler Architekturen, © Jan Bitter,