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Die Kraft authentischer Orte

Interview
Die Kraft authentischer Orte
mit Barbara Holzer von Yves Kugelmann

„Wichtig ist, dass bei erschütternden Orten auch Fenster für Denkräume geöffnet werden.“
Bei Gedenkstätten ist der Ort schon Teil der Geschichte, die erzählt wird. Es braucht den Mut, Leerstellen zu lassen. Besucher müssen Gelegenheit haben, sich selbstständig mit dem Gezeigten auseinanderzusetzen, wie Barbara Holzer erklärt.

 

tachles: Sie sind Architektin, haben sich aber auch auf Ausstellungskonzeption oder Kulturräume spezialisiert. Begriffe wie „szenische Inszenierung” oder etwa „Idee des Raums“ sind bei Ihnen zentral. Was meint dies?

Barbara Holzer: „Szenische Inszenierung“ ist im Prinzip eine Art räumliche Erzählform. Bei einer Ausstellung ist immer wichtig, was die Inhalte sind und wie man sie vermittelt, in den Raum hineinträgt. Man schafft ein Kollektiverlebnis, es ist nicht individuell wie etwa das Lesen eines Buches.

 

Wenn Sie einen leeren Raum betreten und sich vorstellen, ihn mit einem Thema zu verbinden, denken Sie dann die Themen inhaltlich oder sofort räumlich?

Der Ort ist immer präsent, die wichtigste Frage ist jene nach Vorhandensein und Zahl der auszustellenden Objekte. Bei starken Einzelobjekten wie zum Beispiel Kunst zählt vor allem, wie man sie inszenieren kann, damit sie ihre spezielle Wirkung entfalten können. Bei historischen Sammlungsbeständen ist die Art der Präsentation ganz anders: Die Geschichtserzählung erfolgt häufig anhand von Belegobjekten, das heisst Objekten, die helfen, historische Ereignisse auszuleuchten.

 

Die Funktion ist also, eine Erzählung für den Zuschauer so zu gestalten, dass er sie versteht?

Genau. Und dabei ist der Dialog mit den anderen Beteiligten wie beispielsweise Kuratoren für mich eine der kreativsten Phasen. Die Schweiz kennt weniger als andere Länder eine Ausstellungs- und Museumstradition und Erinnerungskultur, die auf moderne Art und Weise Inhalte zu vermitteln versucht. Ja, das ist richtig, auch wenn ich nicht genau weiss, weshalb. In Deutschland etwa hat ein Museum als Institution einen klaren Auftrag, und wer dort arbeitet, ist dafür, im Gegensatz zu hier, gesellschaftlich entsprechend anerkannt. Wir haben ein weniger akademisches Verständnis des Museums als in Deutschland. Aber trotzdem gibt es in der Schweiz Institutionen, die recht avantgardistisch ausgerichtet sind.

 

Arbeiten Sie verstärkt im Ausland, weil es diese Kultur hier nicht gibt?

Doch, es gibt sie schon – aber weniger und die Museen sind auch viel kleiner. Die Schweizer Museen arbeiten qualitativ hochwertig. Häufig sind es auch touristische Destinationen, die grosses Vermittlungspotenzial haben, zum Beispiel die historische Festung Sasso San Gottardo. Ein anderer Fall sind Kunstmuseen, deren Ausstellungen jedoch eher selten von professionellen Gestaltern umgesetzt werden. Eine Ausnahme bilden hier thematische Kunstausstellungen. Aus meiner Sicht ist dies eine verpasste Chance.

 

Sie haben den Wettbewerb für die Neugestaltung der Ausstellung der Gedenkstätte Buchenwald gewonnen. Was wird dort ab 2016 zu sehen sein?

Wie bereits heute, soll die neue Dauerausstellung die Historie des Konzentrationslagers aufzeigen. Die im Kammergebäude bestehende grosse Dauerausstellung wurde direkt nach der Wende gestaltet, damals in einem archivierenden, neutralen Stil. Die Geschichtserzählung und ihre Wahrnehmung durch die Menschen ändern sich allerdings ständig.

 

Und welche Idee hatten Sie dafür?

Als Gestalter wird man einerseits mit fertigen Ausstellungskonzepten konfrontiert, die man dann räumlich adäquat und überzeugend umsetzt. Bei anderen Projekten sind die Konzepte zwar wissenschaftlich ausgearbeitet, funktionieren aber nicht auf den Raum übertragen, sodass man mit den Kuratoren und Wissenschaftlern die Strukturen neu kreieren muss. Oft möchten die Museen viel zu viel vermitteln, etwas, womit wir auch bei der Gedenkstätte vorsichtig umgehen müssen. Wir haben diesbezüglich die Haltung, mit möglichst wenigen, ausgesuchten Objekten und Medien zu arbeiten und auch Jugendliche als wichtige Besuchergruppe adäquat anzusprechen.

 

Bei Buchenwald wird, im Gegensatz zu einem Museum, der Ort selbst schon Teil der Erzählung sein. Wie geht man damit um?

Die Anlage hat eine sehr starke Wirkung, weil sie authentisch ist, und doch nicht alles in einem seltsam konservierten Zustand auf einen zukommt. Die Gestalter wie auch die Institution müssen sich bewusst sein, dass sich die Wahrnehmung der Besucher im Laufe der Jahrzehnte verändert. Unsere Aufgabe ist es zuerst, bei der Vermittlung der Inhalte mitzuhelfen. Unsere Partner bei der Gedenkstätte haben beeindruckende Fachkenntnisse und als Forscher eröffnen sich ihnen auch fortlaufend neue Quellen. Bei Gedenkstätten stellt sich ganz speziell die Frage, wie erinnert werden soll: Wie emotional oder wie faktisch soll die Vermittlung sein? Eine gute Ausstellung bleibt idealerweise zehn bis 15 Jahre aktuell und ansprechend.

 

Wie wirkt sich das etwa auf das noch erhaltene Krematorium aus?

Es wird so belassen, wie es ist: ausgeräumt. Ein grausamer Ort der Erinnerung. Die Besucher bewegen sich frei auf dem ehemaligen KZ-Gelände, eine Besichtigung dieses Gebäudes ist jedem selbst überlassen. Nicht alle werden es sehen wollen. Das historische Kammergebäude befindet sich ebenfalls auf dem Gelände. Wir werden den Eingang zum Gebäude wieder an seinen ursprünglichen Ort versetzen und die Gebäudestruktur eher wieder in den Originalzustand zurückbauen. Das Torgebäude, das Kammergebäude, das Krematorium und die ehemalige Häftlingskantine sind die einzigen erhaltenen Originalgebäude. Die anderen Gebäude und Baracken sind noch als Flächen auf dem Gelände markiert. Der ehemalige SS-Bereich wurde ingenieursmässig saniert und wird heute für Besucherdienste, Gastronomie und als Herberge benützt. Sie stehen mit ihrer funktionalen Ausrichtung in hohem Kontrast zu dem historischen Bestand.

 

Welche Gedenkstätten bieten aus Ihrer Sicht gute Lösungen an?

Sachsenhausen beispielsweise hat sehr gute Momente. Aber es geht nichts über die Kraft, die authentische Orte ausstrahlen. Am nachhaltigsten erschüttert haben mich aber die Stollen in Mittelbau-Dora. Danach war ich drei Stunden sprachlos. Wichtig finde ich, dass bei solch erschütternden Orten auch Fenster für Denkräume geöffnet werden. Ausstellungen müssen nicht immer voller Inhalt sein – es braucht den Mut zur Leere und zur Lücke.

 

Kommt dieser Mut zur Lücke für Sie in der architektonischen oder gestalterischen Umsetzung solcher Projekte grundsätzlich zu kurz?

Ich finde schon. Manchmal ist es extrem hinderlich, dass man in der Vermittlung so perfekt sein will. Ich glaube, dass Orte wie Gedenkstätten das Feld offen lassen müssen, damit das Publikum eigenständig reagieren und interagieren kann.

 

Hat man als Architektin gegenüber dem öffentlichen Raum eine andere Verantwortung, denkt man ihn anders als den nicht öffentlichen?

Auch bei privaten Räumen interessiert mich besonders, wie das gesellschaftliche Zusammenleben funktioniert. Die Frage ist, wie Kommunikation und Interaktion zwischen Menschen im Raum entsteht.

 

Wie kann man als Architekt erreichen, dass Konzepte in der Realität dann auch funktionell sind, wirklich funktionieren?

Heute dominiert das Denken von Wirtschaftlichkeit und Wachstum im Städtebau. Der Handlungsspielraum für uns Architekten wird dadurch immer geringer. Bei einer neuen Projektentwicklung sind viele verschiedene Interessenparteien beteiligt, die alle profitieren wollen. Die Erstellung von hochwertigen Eigentumswohnungen in grossen Mengen scheint das verlockendste Produkt auf dem Entwicklermarkt zu sein. Als Folge davon entsteht eine Atomisierung von Eigentum in den Städten. Ich halte dies für ein fundamentales Problem der städtebaulichen Entwicklungen momentan und auch in Zukunft.

 

Aber in den Städten steckt doch eine grössere Planung dahinter.

Ja natürlich, es gibt viele unterschiedliche Planungsinstrumente. Aber vieles folgt letztlich wirtschaftlichen Regeln, und das Verständnis von Stadtraum, welches sich daraus ergibt, sehe ich kritisch. Die Architektur folgt so lange bewährten Regeln, bis sie nicht mehr anwendbar sind. Neues und Überraschendes kann erst entstehen, wenn der finanzielle Erfolg nicht mehr das Hauptkriterium bei einer Projektentwicklung ist. Hinzu kommt, dass die gesetzlichen Auflagen für Bauprojekte immer grösser werden, es immer komplizierter und teurer wird zu bauen.

 

Haben Sie Projekte realisiert, in denen Sie daraus ausgebrochen sind?

Natürlich kämpfe ich immer wieder dafür, auszubrechen und neue Ideen einfliessen zu lassen. Aber grosse Bauprojekte sind letztlich immer auch an grosses Geld gebunden.

 

Gibt es positive Beispiele dafür, wo es doch gelungen ist?

Ein gutes Beispiel für mich ist das Kongresszentrum in Luzern von Jean Nouvel, ein Leuchturmprojekt mit öffentlicher Nutzung. Das KKL ist eine grossmassstäbliche und radikale Setzung. Ich finde es extrem wichtig für eine Stadt, solche Setzungen zuzulassen und Orte zu schaffen, die den Menschen mehr bieten können als vorher geboten wurde.

 

Kann die Nutzung von der richtigen Architektur profitieren?

Dazu kommt mir der Flohmarkt Encants Barcelona in den Sinn, der ein neues verspiegeltes Dach erhalten hat – schon jetzt eine kleine Architekturikone. Die Überdachung dient der Adressbildung des Flohmarkts: Die Leute wissen ganz genau, was an diesem Ort stattfindet. Solche Architekturen sind kleine Katalysatoren für Nutzungen, die man danach anders wahrnimmt. Ein anderes Beispiel hierfür ist der High Line Park in New York, den Diller Scofidio + Renfro gebaut haben. Der frühere Bürgermeister Giuliani stand dem Projekt kritisch gegenüber, aber die Architekten glaubten daran. Sie haben damit sehr viel bewegt: Fünf Millionen Besucher pro Jahr entdecken den Park! Es gibt ein Bedürfnis nach solchen öffentlichen Räumen, die man entdecken und mit Bildern programmatisch überlagern muss. Daraus entstehen unglaublich poetische Orte. Solche Orte wünsche ich mir auch für Zürich.

 

In der Schweiz hat man aus solchen Arealen bis jetzt nicht eben grosse Würfe gemacht.

Das hat auch viel mit der hiesigen Art der Rechtslage zu tun, sprich, dass die Bevölkerung etwas genehmigt oder nicht. Man muss mehrheitsfähige Projekte entwickeln. Beim KKL ist das gelungen und spiegelt die grosse Leistung der Öffentlichkeitsarbeit wider. In Deutschland läuft dies oft anders ab, zum Beispiel die Situation in Stuttgart oder das Tempelhofer Feld. Gerade in Berlin hat man die Bevölkerung einfach zu lange nicht eingebunden, und nun wehren sich die Bürger mit den verfügbaren Rechtsmitteln. Kooperative Verfahren sind eben einfach wichtig und werden immer wichtiger.

 

Ein anderes Thema in der Schweiz ist die Raumplanung, die zunehmend auch in den Kontext der Migration gestellt wird.

Die Städteplanung hat in diesem Kontext hauptsächlich die Fragestellung zur Nachverdichtung im urbanen Raum zu beantworten. Im Zusammenhang mit wachsenden Bevölkerungszahlen ist auch zu definieren, welche Auswirkungen der demografische Wandel und der stetig wachsende Anspruch an Wohnfläche pro Person auf die Raumplanung nehmen. Man muss zukünftig bei der Planung von urbanen Räumen unbedingt versuchen, Areale so zu entwickeln, dass eine soziale Mischung stattfinden kann.

 

Aber ist Berlin, wo sie Ihr zweites Büro haben, nicht einer jener Orte, die sich in kürzester Zeit ohne Masterplan extrem entwickelt haben?

Ja, man hat ohne Miteinbezug der Bevölkerung einfach entschieden, gebaut und auch über Eigentum verfügt. Aber es gab übergeordnete Regeln für den Städtebau – zurück zu geschlossenen Strassenfronten, Hochhausbildung an bestimmten, konzentrierten Punkten, städtische Fassaden mit steinernem Ausdruck, tendenziell Lochfenster, gläserne Gebäude bilden die Ausnahme. Die Frage ist ja immer, mit welchem Stadtbild wird gearbeitet, was gibt die Stadtplanung vor?

 

Wie steht es mit der Stadtplanung in anderen Ländern?

Zum Teil ist sie kaum existent, beispielsweise in Tokio. Dort ist vieles möglich, solange die Auflagen für Sicherheit – Feuer, Erdbeben und so weiter – befolgt werden. In London gibt es zwischen den verschiedenen Distrikten kein koordinatives Gremium zur Abstimmung. Es gibt keine übergeordnete Institution, die solche städtebaulichen Ziele zentralisiert vorgeben würde. Deshalb haben Architekten als private Initiative ein Stadtmodell machen lassen, um zu prüfen, wie viele Hochhäuser sich derzeit im Bau oder in Planung befinden. Sie kamen auf etwa 230 und merkten dabei, dass sich die gesamte Stadtsilhouette komplett verändern wird. Hochhäuser werden vor allem dort gebaut, wo es wenig Nachbarn gibt, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügen, gegen die Bauten Einspruch zu erheben.

 

Was sind Ihre laufenden oder nächsten Projekte?

Das allerkleinste ist ein Wohnatelier, das wir im Hof unseres Zürcher Büros planen – eine Art Eigenversuch, günstig zu bauen und nachzuverdichten. Äusserlich betrachtet würde man nicht vermuten, dass sich der Ort für einen Bau eignen würde, ich finde, dass man seine eigenen programmatischen Ideen auch im eigenen Leben anwenden sollte. Derzeit arbeiten wir auch an vielen Projekten im Wohnungsbau: genossenschaftliche sowie kleinere und grössere private Projekte, die im Zusammenhang mit dem Thema Community interessant sind: Wie funktionieren heute diverse Gesellschaftsformen untereinander? Wie kann man die Entstehung einer Community mit öffentlichem Raum stärken? In Weimar arbeiten wir nebst der Gedenkstätte Buchenwald auch an der Konzeption der neuen Dauerausstellung im Bauhaus, wobei sich beide Projekte noch in den frühen Projektphasen befinden. Das spannende für uns in allen Projekten, sei es in den Bereichen Kultur, Gewerbe, Büro- oder sei es im Wohnungsbau, ist, dass wir im gesamten Spektrum der Architektur tätig sein können.

 

Legenden:
Der Raum des Schreibers (Sofer) im Jüdischen Museum Berlin.
Neubau paläon Forschungs- und Erlebniszentrum Schöninger Speere – Das Gebäude bildet ein Landmark in der leicht hügeligen Landschaft, die sich in der reflektierenden Aussenhaut spiegelt.
Cattaneo –  Wohnüberbauung in einem umgenutzten ehemaligen Industrieareal.

Credits

© Jan Bitter, © Jan Bitter, © Jan Bitter