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Geschichten formen

Essay
Geschichten formen
von Tristan Kobler

“Bei der Szenografie von Ausstellungen wird der Szenografie mehr als nur die gestalterische Kraft zugemutet, sie wird als integraler Teil des ganzen Prozesses in der Neukonzeption einer Ausstellung gesehen. Das heißt, sie sollte als eine Methode zur Definition von Zielen und Ausrichtung einer Ausstellung genutzt werden und steht somit noch vor der inhaltlichen Auswahl der Objekte.”

Tristan Kobler stellt sein Verständnis von Szenografie dar – ein Essay, der auf dem Kolloquium “Die Topologie des Immateriellen” von Januar 2014 basiert.

Mit dem Titel des Kolloquiums „Zur Topologie des Immateriellen“ wird die Gestaltung abstrakter Zusammenhänge aus Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft in Ausstellungen erfahrbar gemacht. Die „Szenografie in Ausstellungen und Museen“ steht im Fokus des Interesses.

Zu Beginn würde ich gerne erwähnen, dass es einen Unterschied macht, ob ich von der Szenografie in Ausstellungen oder der Szenografie von Ausstellungen spreche. Ich selber spreche nur von der Szenografie von Ausstellungen, da hinter dem Begriff, so unscharf und falsch er auch sein mag, mehr steckt als ein rein gestalterischer Eingriff.

Die Szenografie in Ausstellungen geht davon aus, dass die Gestaltung additiv der Ausstellung hinzugefügt wird. Es zeigt eine Haltung der Macher oder Institutionen gegenüber der Gestaltung. Die Inszenierung soll auf ein inhaltliches oder kuratorisches Konzept reagieren und dieses gestalterisch folgerichtig umsetzen. Die Szenografie wird dabei als gestalterischer Mehrwert verstanden, von dem breite Akzeptanz bei den Rezipienten, also den Besuchern und Besucherinnen, erwartet wird. Bei dieser Interpretation der Gestaltung lassen sich Inhalt und Form klar voneinander trennen. Dies erleichtert die Definition von Zuständigkeiten, reduziert Konflikte und ermöglicht gleichzeitig auch eine Logik in den zeitlichen Abläufen. Je nach Konzept kann die Szenografie dabei von Anfang an involviert werden, muss aber nicht.

Bei der Szenografie von Ausstellungen wird der Szenografie mehr als nur die gestalterische Kraft zugemutet, sie wird als integraler Teil des ganzen Prozesses in der Neukonzeption einer Ausstellung gesehen. Das heißt, sie sollte als eine Methode zur Definition von Zielen und Ausrichtung einer Ausstellung genutzt werden und steht somit noch vor der inhaltlichen Auswahl der Objekte.

Die Welt erklären

Über Ausstellungen erklären wir uns die Welt und erschaffen sie uns durch filtrieren und selektieren so, wie wir sie gerne hätten. Die Institution, die sich darum kümmert, nennen wir Museum. Aufgabe eines Museums ist die sachgerechte Aufarbeitung von selektiv aussortierten Inhalten, die im Medium Ausstellung veröffentlicht werden. Der Ausstellungsraum ist dabei das Gefäß für eine thematische, künstlerische und didaktische Aufbereitung.

Dauerausstellung und Zeitlosigkeit

Die meisten Museen zeigen ihre eigenen Sammlungen, die größtenteils um einiges umfangreicher sind, als es die räumliche Kapazität der Ausstellungsräume zulässt. Dementsprechend hoch ist die Versuchung, möglichst viele der gehorteten Schätze öffentlich zu zeigen – diese Art der Dauerausstellungen ist ganz automatisch auf lange Zeit angelegt. Oft begegne ich der Vorstellung, dass Dauerausstellungen eine gewisse Trägheit haben und sich nicht leicht an Aktualitäten anpassen sollten. Permanente Ausstellungen werden fast immer auf Langlebigkeit konzipiert. Sie vertrauen auf die Kraft der Exponate. Je weiter diese örtlich oder zeitlich vom hier und jetzt entfernt sind, desto unantastbarer werden sie behandelt. Diese Mumifizierung der Objekte zielt auf Ewigkeit.

Von vielen Institutionen ist eine gewisse Trägheit, die Zeitlosigkeit zelebriert und dauerhafte Wertvorstellungen inszeniert, geradezu erwünscht. Diese Vorstellung teile ich nicht, da eine Dauerausstellung für sieben bis zehn Jahre und nicht für Generationen konzipiert wird.

Permanente Sammelausstellungen oder Dauerausstellungen altern. Diese Alterung ist in der Art der Gestaltung aber auch in der Themenwahl und in der Art der Vermittlung schon nach wenigen Jahren deutlich ablesbar. Das Altern der Objekte ist dabei meist irrelevant, nicht aber, welche Objekte im Interesse aktueller Diskussion stehen.

Wechselausstellungen: Auseinandersetzung mit dem Jetzt

Wechselausstellungen dürfen im Vergleich zu Dauerausstellungen brandaktuell, vergänglich, experimentell und provokativ sein. In diesem Format können auch externe Sammlungen, Wanderausstellungen und thematische Vertiefungen als verdichtete Rauminstallationen gezeigt werden. Wechselausstellungen können aktuelle Themen aufgreifen, ohne Gefahr zu laufen, zu veralten. Nicht nur die Wahl des Inhaltes erlaubt es, nah am Puls der Zeit zu sein, sondern auch die Inszenierung an sich.

Die Freiheit, Themen, Umsetzung und Objekte ohne den Druck der eigenen Sammlung wählen zu können, ermöglicht es, thematische Ausstellungen zu erfinden, die Geschichten auch ohne Belegexponate erzählen. Gemeinsam bei Dauer- und Wechselausstellungen ist die Atmosphäre, die sie vermitteln oder die Geschichte, die dem Publikum erzählt wird.

 

Das Immaterielle einer Ausstellung

Die Atmosphäre setzt sich aus dem Raum, den Objekten oder Menschen darin, dem Licht, Klang und Duft – kurzum aus sinnlich erfassbaren Komponenten – zusammen, die den Hintergrund einer Geschichte formen. Geschichten erzählen ist der immaterielle Kitt jeder Ausstellungsform.

In der heutigen Museumsarbeit wird der Vermittlung viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als früher, und die Exponate werden mit Geschichten ausgekleidet, die sie erlebbar machen. Objekte erklären sich selten von allein. Sinn und Bedeutung sind nur dann im vornherein gegeben, wenn diese Objekte ausreichend bekannt sind oder bereits im Vorfeld auf die eine oder andere Art vermittelt wurden. Eine Ausstellung ist die Gelegenheit, bekannte Muster zu durchbrechen und an sich bedeutungslose und noch unbekannte Objekte unter einer fokussierten Fragestellung neu zu sichten. Unbedeutendes kann so aufgearbeitet werden, dass es unsere Zeit oder eine Epoche erklären kann, Bekanntes und Bedeutendes kann aber auch uminterpretiert oder entmystifiziert werden.

Das Zeigen und Erklären gesammelter Schätze wird entsprechend dem Zeitgeist mit modernen Vermittlungsmethoden in Ausstellungen attraktiv und mehrheitsfähig aufbereitet. Eine moderne Ausstellung kommuniziert direkter und offensiver mit dem heutigen Publikum, das wiederum ungeduldiger, verwöhnter und konsumorientierter geworden ist. Begriffe wie „Inszenierung“, „Mitmachausstellung“ oder auch „performative Ausstellung“ sind in Mode. Die erlebnisorientierte Vermittlung, das individuelle Erleben und das kollektive Dazugehören sind die neuen Leitlinien moderner Museumsgestaltung.

Hochinszenierte Orte, aufwendige interaktive Erlebnisstationen und professionelles Marketing preisen Ausstellungen nach dem Muster materieller Gütervermarktung an. Im Gegensatz zu den „individualisierten“ Massenprodukten der Konsumgüterindustrie arbeiten Museen mit viel bescheideneren finanziellen Mitteln. Bei der Schlacht um die Vermarktung immaterieller Werte können Kulturinstitute jedoch nur ausnahmsweise mit der technischen Aufrüstung von global tätigen Firmen mithalten. Die Realität der meisten Museen sieht so aus, dass mit dem jährlichen Budget gerade mal die Kosten für Unterhalt und Personal gedeckt werden können. Anschaffung, Unterhalt und Amortisation aufwendiger Technik lassen viele Ausstellungsinstitutionen nach und nach in die Armutsfalle tappen.

Relevanz und Kontext

Neben dem Erlebnis einer nachhaltig wirkenden Form der Vermittlung ist die Relevanz und die Aktualität einer Ausstellung ein zentrales Thema. Die Frage, „warum“ ein Thema gezeigt werden soll, ist dabei wichtiger als die Frage des „wie“. Bei Museen mit wertvollen und umfangreichen Sammlungen wird diese Frage meiner Ansicht nach zu wenig gestellt. Die Einzigartigkeit oder der Wert einer Sammlung (auch dieser natürlich ein immaterieller Wert) reicht schon aus, dass er ausstellungswürdig scheint. Gibt es aber keinen offensichtlicheren Grund als die Notwendigkeit, die Schätze öffentlich zugänglich zu machen, wird sich auch das Interesse der Besucher in Grenzen halten. Es braucht die Relevanz, den Bezug zur Aktualität und die Einbettung in ein heutiges Verständnis von Kommunikation und Kultur. Es braucht den Bezug zum Hier und Jetzt.

Gelungene Ausstellungen betten sich in einen Kontext und haben eine klare Aussage. Der Kontext ist dabei als ein vielschichtiges und Rhizom-artiges Gebilde zu verstehen, das als Netzwerk Verbindungen herstellt. Es steht – oberflächlich betrachtet – im Gegensatz zur klaren und einfachen Aussage einer Ausstellung.

Ausstellungen haben ihr eigenes geschichtliches und kulturelles Umfeld. Nicht nur, dass eine aktuelle Diskussion in Politik, Gesellschaft, Kunst und im Kulturbetrieb die Sicht auf die Dinge verändert, sondern der Diskurs um die Art und die Ästhetik von Ausstellungen selbst formen diese Disziplin. Wie alle Formen kultureller Äußerungen verändern sich Ausstellungen mit der Zeit. Dasselbe Thema wird heute weder inhaltlich noch gestalterisch gleich umgesetzt wie vor einigen Jahren und wird in einigen Jahren wiederum anderen Zielvorstellungen folgen. Die Fragestellungen der Zeit verändern sich laufend und gehen auch an den Machern einer Ausstellung nicht spurlos vorbei. Museen, Kuratoren und Ausstellungsgestalter bewegen sich weiter und leuchten bestehende Themen neu aus. Ausstellungen reihen sich daher ein in eine Abfolge von Interpretationen zu einem Thema. Vergleichbar zum Film oder zu Theater-Inszenierungen nutzen sie die Mittel von Schnitt, Zitat, Atmosphäre und dem Erzählen von Geschichten. Ausstellungen sind im Gegensatz zu Film oder Theater jedoch immer räumliche Installationen, die ihre individualisierte Form durch das physische Durchwandern finden.

Ort und Raum

Ausstellungen sind also ein Medium in einem kulturellen Kontext. Eine Ausstellung lebt an einem physischen Ort, kann sich aber über verschiedenste Kommunikationskanäle auch virtuell ausbreiten. Das Echo einer Ausstellung hat nicht allein mit der Wirkung am Ort selbst zu tun, sondern auch mit seiner Wahrnehmung ausserhalb des Ortes des Geschehens. Es kann sogar sein, dass die Wirkung einer Ausstellung sich erst viel später entfaltet, sie sozusagen erst posthum Bekanntheit erlangt und damit erst in der vermittelten Wahrnehmung erfolgreich wird.

Der Ort einer Ausstellung beinhaltet mehrere Faktoren, einer davon ist das Gebäude. Seine Geschichte prägt die Wahrnehmung, die im kollektiven Gedächtnis gespeichert ist. Sie kann mit Ereignissen am physischen Ort zusammenhängen, die sogar älter sind als das Haus selbst, können aber auch die Gründung des Hauses oder Ereignisse während seiner Existenz betreffen. Die Ereignisse können politisch, gesellschaftlich oder kulturell bedingt sein.

Ein anderer Kontext, der an das Haus gebunden ist, ist der Raum. Die Architektur eines Hauses prägt den Umgang mit einer Ausstellung. Der Auftritt im urbanen Umfeld und der Charakter eines Gebäudes im Außenbereich formen eine bestimmte Erwartung an das Innere und an die Ausstellung. Mit dieser Erwartung können die Ausstellungsmacher spielen, indem sie diese ersten Eindrücke weiterspinnen oder eben sie bewusst brechen. Das Spielen mit dieser Erwartungshaltung ist aber auch im Kontext des eigenen Verständnisses des Hauses zu sehen, wie weit oder eng bei vorherigen Ausstellungen der Interpretationsspielraum gesteckt wurde.

Der Ort im Haus, in dem die Ausstellung aufgebaut wird, kann die Deutung ebenfalls verändern. Ist der Raum repräsentativ, ist er an eine vorherige Ausstellung angehängt? Wie komme ich innerhalb des Hauses zur Ausstellung? Welche Eindrücke nehme ich auf dem Weg dahin mit und was geben sie mir bereits vor?

Der Ausstellungsraum selber hat in jeder Ausstellung eine starke physische und atmosphärische Präsenz. Es bietet sich an, dass er selbst als größtes Exponat integriert und genutzt oder in einem gegenteiligen Szenario so weit wie möglich ausgeblendet und überformt wird. Bei Räumen mit einer starken atmosphärischen Präsenz sollte die Ausstellung mit dem Raum arbeiten und auf die gegebenen atmosphärischen Qualitäten reagieren. Das bedeutet, dass der Raum die Ausstellung mitformt. Das kann so weit gehen, dass sich auch eine inhaltliche Aussage mit dem Ort und Raum auseinandersetzt und diese den Inhalt verändern kann. Aus diesem Grund ist eine Ausstellung in zwei unterschiedlichen Räumen nie dieselbe. Sie wird anders konzipiert und anders wahrgenommen.

Botschaft

Jede Ausstellung sollte nicht nur einen Grund haben, weshalb sie nötig scheint, sondern auch eine Mitteilung oder Message beinhalten, die als Botschaft oder Aufforderung bei den Besucherinnen und Besuchern hängen bleibt. Ein Thema oder ein Inhalt brauchen dabei eine Relevanz, die über das Gezeigte hinaus wirkt. Die Themen sind so lange zu bearbeiten, bis sich ein Bezug zu heutigen Fragestellungen konstruieren lässt. Die Zeitlosigkeit eines Exponats oder eines Themas kann dabei nur hergestellt werden, wenn es direkt mit dem Individuum oder der Gesellschaft in Verbindung gebracht werden kann, wenn es mit der heutigen Situation vergleichbar wird. Ob das Mittel der Differenz oder der Ähnlichkeit benutzt wird, ergibt sich aus den gegebenen Inhalten. Entscheidend ist das Herausschälen einer Relevanz, die verstanden werden kann und das Potential besitzt, das Denken und vielleicht das Handeln zu beeinflussen. Unter allen immateriellen Faktoren halte ich die Botschaft an sich für den wichtigsten Aspekt, für die Essenz einer Ausstellung. Sie ist Inspiration für Inhalt und Gestaltung der Macher. Für das Publikum ist sie die Essenz des Gelernten und Erlebten.

Interaktion

Ausstellungen sind immer interaktiv. Die Interaktion im Raum ist aber nicht auf Ausstellungen beschränkt. Wir interagieren ständig mit unserem Umfeld. Das kann auf der Straße, in einer Bar oder mit einer anderen Person sein. Die Besucher interagieren mit dem Raum, den Objekten, den Bildern und den anderen Besuchern.

Einen Spezialfall der Interaktion bilden dabei die sich über lange Zeit inflationär verbreitenden, interaktiven Medien und Maschinen. Die gut sichtbare Interaktion der Besucher über eine mediale Schnittstelle oder über körperliche Betätigung an einer mechanischen Schnittstelle („Science-Museen“) wurde und wird immer noch in Ausstellungen mit Vorliebe als Mittel der Auseinandersetzung mit Inhalten eingesetzt. Die Beweggründe für diese aktionsorientierte Variante der Vermittlung könnte vielleicht mit der Faszination für körperliche Ertüchtigung und der Optimierung von Leistung über sensitive Erfahrungen erklärt werden. Vielleicht ist es aber auch die fehlende Bereitschaft des Ausstellungspublikums, sich genügend ernsthaft und intensiv mit einem Thema auseinanderzusetzen, was die Macher einer Ausstellung wiederum ärgert. Anstelle fehlender immaterieller Mittel sollten sie dem schleichenden Desinteresse der Besucher mit Hard- und Software entgegenwirken. Den Einsatz interaktiver Medien und Maschinen zur Wissensvermittlung interpretiere ich als offensiven Akt, einen fehlenden Instruktor zu ersetzen und gehört er daher für mich in die Mottenkiste der Didaktik.

Drei Ausnahmen machen aber trotzdem Sinn: Kinder lernen über das Spiel und besonders über das Spiel mit Anderen. Mit Spiel meine ich nicht, physikalische Grundregeln über das Drehen von Kurbeln zu erklären, sondern über die Ästhetik eines Spiels, Phänomene wahrzunehmen, die auch verstanden werden können. Die zweite Ausnahme sind Interaktionen, die sich mit dem Körper steuern lassen und faszinierende Bilder und atmosphärische Veränderungen ermöglichen. Die dritte Gruppe von interaktiven Installationen provoziert Kommunikation unter den Besuchern und zielt auf ein kollektives Erlebnis ab. Medien wie Filme oder Oral History, Klang und Lichtinstallationen gehören trotz unvermeidlicher Interaktion dabei nicht in die Kategorie von visuellen interaktiven Medien.

Performative Ausstellungen

Etwas feinfühliger in der Interaktion sind die performativen Ausstellungen, die das Spiel mit Akteuren und Besuchern in der Ausstellung szenisch umsetzen. Ich meine damit nicht, dass performative Akte feinfühlig sein sollten, sondern, dass sie (weil situativ und nicht statisch individuell) auf eine Situation reagieren können. Performative Ausstellungen bedingen oft überdurchschnittlichen Personalaufwand und eignen sich deshalb eher für Wechselausstellungen. Bei Dauerausstellungen sind sie nur finanzierbar, wenn zum Beispiel Aufsichtspersonal eingesetzt wird oder die Besucher als aktive Akteure animiert werden.

Psychologie und Wahrnehmung

Inhalte und Gestaltung zielen bei Ausstellungen auf archaische Muster des Verstehens und des Einordnens in den persönlichen Erfahrungsschatz. Museen haben zumindest in Europa oft den Anspruch, für alle Altersklassen einheitlich verständlich zu sein. Das ist sehr schwierig, da die Vorstellungen, was interessant oder relevant sei, sich in den verschiedenen Altersklassen enorm unterscheiden können. Große Unterschiede sind auch im Bildungsniveau der Besuchenden auszumachen. Normalerweise kann ein Museum aber davon ausgehen, dass uninteressierte Besucher sich gar nicht dorthin verirren, vor allem nicht, wenn die Themenauswahl von vornherein nur ein kleines, dafür aber interessiertes Publikum anspricht. Die Unberechenbarkeit von Ausstellungsbesuchern verleitet Museen immer wieder dazu, sich lieber eine auf sie eingestellte Besucherschaft heranzuzüchten. So kann abgeschätzt werden, was beim Stammpublikum ankommt und was nicht verstanden wird. Dies ist gleichermaßen der Fall bei Museen mit hohem Bildungsanspruch, die sich an ein Publikum der Altersgruppe 50+ Jahre wenden als auch bei Museen, die Jugendliche oder bildungsferne Schichten (was ich hiermit aber nicht gleichsetzen will) ansprechen. Museen mit sehr hohem Besucheraufkommen und einem Publikum, das auch aus anderen Kulturen kommt, sehen sich hingegen mit einer breit gefächerten und heterogenen Besucherschaft konfrontiert. Verschiedene Altersschichten, unterschiedlichste Vorkenntnisse und kulturelle Hintergründe treffen aufeinander. Neben sprachlichen Barrieren werden Inhalte und Objekte durch anders geformte Auffassungen zu Form, Symbolik und Gestaltung verschieden bewertet und verstanden.

Driften Erwartungshaltung, Kenntnis und Vorwissen beim Publikum einer Ausstellung weit auseinander, können Inhalt und Botschaft mit starken Bildern und auf mehreren Ebenen vermittelt werden. Der Raum und die Raumatmosphäre formen den Rahmen, die Einstiegssequenz in eine Szene. Sie ist eine vordergründige Ebene, die eine Situation vorgeben, die schnell verstanden werden kann. Als primäre Information steuert sie über die Atmosphäre das Verhalten der Besucher. Eine solche Atmosphäre ist vergleichbar mit der ersten Szene eines Films, die ein Bild der vorherrschenden Situation vermittelt. Aus dieser ersten Szene entwickeln sich verschiedene Fäden der Geschichte, die in Ausstellungen über eine zweite informative Ebene und eine dritte vertiefende Ebene aufgerollt werden. Die zweite, dritte oder möglicherweise auch eine vierte Ebene erzählen die Geschichte weiter, indem sie durchaus auch widersprüchliche und irritierende Informationen vermitteln können. Durch diese Auffächerung der Inhalte werden Optionen aufgezeigt und Interpretationen verhandelt, die Teil des inhaltlichen Diskurses sind. Eine große Offenheit der Facetten eines Themas bereichert die Aussage und lässt die Besucher aktiv die neu gewonnenen Erkenntnisse mit ihrem eigenen Erfahrungshorizont abgleichen.

Steuerung und Interpretation

In Ausstellungen können wir die Besucher nur bedingt steuern. Sie wählen ihr Tempo und den Ablauf selber und tauchen je nach Zeitbudget oder Interesse nur selektiv in tiefere Schichten ein. Durch ein Auffächern der Informationsebenen können die verschiedenen Interpretationen zum Thema und den gezeigten Exponaten so vermittelt werden, dass nicht die Objektivität der Information im Vordergrund steht, sondern der Kontext von Ort, Zeit und dem Autor oder der Autorin der Information.

Ausstellungen haben eine Autorenschaft. Sie sind daher nur bedingt objektiv. Es sind die subjektiven Meinungen von Autoren, die Besucher weg von der Information zur Interpretation führen. Kann vermittelt werden, dass diese immer vom Kontext abhängig sind, wird dem Publikum Raum für eigene Interpretationen gelassen. Dieser Schritt macht eine Ausstellung zur Plattform und innerhalb eines Museum zum Ort des Diskurses.

Arbeitsbeispiele Holzer Kobler Architekturen

„Wir brauchen keine anderen Welten, wir brauchen Spiegel.“ (Stanislas Lem, Solaris)

Im Folgenden werden einige Gedanken und Beispiele unserer Auseinandersetzung mit dem Thema Ausstellungen und zur Szenografie und Gestaltung vorgestellt.

Die Ausstellung „Gerücht“ – Museum für Kommunikation, Bern, Schweiz

2009 haben wir zusammen mit dem Museum für Kommunikation in Bern in einer intensiven Zeit und in sehr enger Zusammenarbeit die Ausstellung zum Thema „Gerücht“ entwickelt und realisiert. (Abb. 1) Es gab weder Vorgaben noch Exponate, bloß ein Thema, Überlegungen und Erkenntnisse aus der vorangegangenen Recherche des Kuratoren-Teams. Nach mehreren Workshops ohne fassbare Resultate wurde klar, dass sich alle Behauptungen und alle gestalterischen Ansätze dem Wesen des Gerüchts entzogen. Die Erkenntnis, dass das Gerücht sich einer exakten Definitionen widersetzt und sich nicht in eine formale Zwangsjacke stecken lässt, hat zur Erkenntnis geführt, dass das nicht Fassbare des Gerüchts den Kern der räumlichen Atmosphäre bilden muss. Wir wussten nur, dass das Gerücht schrill, bunt und unberechenbar ist, jeden treffen kann und sich epidemisch verbreitet.

Der gewählte Plot verzichtete auf Kapitel und Raumunterteilungen und konzentrierte sich auf Fallbeispiele, die sich im Gerüchtewald, einer zufällig erscheinenden Holzkonstruktion verbreiten, die durchsetzt ist mit hunderten Stimmen aus darin integrierten Minilautsprechern. In Analogie zu einem Gerücht war der Raum offen, transparent, schrill und musste das Immaterielle, das Wesen des Gerüchts, vermitteln. Die Ausstellung sollte nicht nur die Phänomene von Gerüchten atmosphärisch vermitteln, sie sollte selber ein Kompetenzzentrum für Gerüchte sein und sogar neue Gerüchte in die Welt setzten. Dafür gab es die Gerüchteagenten, kleine, extrem neugierige und hinterlistige Wesen, die immer auf dem neuesten Stand waren. In der Ausstellung sind sie im Cinema optique, also einem Pepper’s Ghost aufgetreten. Die dafür ausgesuchten Schauspieler agierten von einem gut vernetzten Studio aus, hatten über Kameras die ganze Ausstellung im Blick und sprachen die Personen über ihren Guckkasten direkt an.

Die Ausstellung wurde ein zweites Mal im Museum für Kommunikation Berlin unter dem Titel „Gerüchte“ inszeniert. Ausnahmsweise konnte die Ausstellungsgestaltung übernommen werden, da sie nicht einer Form, sondern einem Prinzip folgte. Der Gerüchtewald konnte sich wie das Gerücht selber überall einpassen. Doch das Gerücht selber funktioniert nicht ohne den örtlichen Kontext: Die Gerüchtebeispiele waren nicht übertragbar und mussten komplett auf den neuen Ort zugeschnitten werden.

Ausstellung Realstadt, Wünsche als Wirklichkeit. – Berlin, Deutschland

Im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) wurde ein Konzept zum Thema der Gestaltung von Städten, und zwar einer ganz normalen deutschen Stadt entwickelt. In enger Zusammenarbeit mit Martin Heller aus Zürich/Linz und Angelika Fitz aus Wien haben wir als inhaltliches und gestalterisches Autorenteam mit einer klaren Aufgabenverteilung, aber offenen Abgrenzungen gehandelt. Da es sich nicht um einen Auftrag von einem Museum handelte, gab es weder einen Ausstellungsraum oder Exponate noch eine Infrastruktur für Leihverkehr und Betrieb. (Abb. 2)

Aus rund acht Standorten in Berlin haben wir uns aus atmosphärischen Gründen für das Kraftwerk Berlin Mitte entschieden, einen stillgelegten Industrieraum aus den siebziger Jahren. Wir haben den Raum selber als größtes Exponat inszeniert, der mit hunderten von Modellen atmosphärisch verschmelzen sollte. Die gezeigten Modelle wurden mit wenigen Ausnahmen über Ausschreibungen in Fachpublikationen und auf Internetportalen gesucht. Ausgewählt wurden Modelle von Stadtplanungsämtern, Stadtplanern, Architekten, Studierenden, Künstlern und Bürgerinitiativen. Ob ein Projekt ausgeführt wurde oder überhaupt dafür gedacht war, war dabei nicht relevant. So wurden auch verlorene Wettbewerbe, Fantasiegebilde, Arbeitsmodelle und nicht realisierte städtebauliche Visionen auf den zwei Ebenen im Raum so verteilt, dass sich daraus eine neue Stadt als Wunschlandschaft formte. Zu sehen waren ausschließlich Modelle ohne architektonische Pläne und Zeichnungen, versehen nur mit einem kurzen Erklärungstext der Autoren. In der 150m x 50m großen Halle wurden auch Bar, Ausstellungsleitung und Vortragsraum als provisorische Fahrnisbauten integriert.

Stadtplanung hat viele Ebenen: Bottom-Down, aber auch Bottom-Up. Den Ausstellungsort haben wir als offene Plattform, als Diskussions- und Aufenthaltsort für die Bewohner und Bewohnerinnen und Macher der Stadt aufgebaut.

Ausstellung Heimatkunde – Jüdisches Museum, Berlin, Deutschland

Am Jüdischen Museum in Berlin wurden Arbeiten von 30 Künstlern mit Blick auf Deutschland gezeigt. Alle gewählten Künstler leben in zwei Kulturen, ihrer angestammten jüdischen Kultur und in der Kultur, in der sie arbeiten und leben, die aber nicht deckungsgleich sind. Die leichte Verschiebung und Torsion hat den Grundriss determiniert. Das Ausstellungsgeschoss im Altbau wurde leicht verdreht und um fünf Grad geneigt wieder in die bestehende Hülle eingebaut. Die Neigung des Bodens bestimmt die Neigung der Wände, und die Drehung im Raum öffnet Fugen zwischen den zwei Räumen. Der Altbau wurde so belassen wie vorgefunden, und der Einbau in Analogie zu den White Cubes der Galerien in abstraktem Weiß hineingesetzt. Die Irritationen vom Leben der Künstler in zwei Kulturen haben wir durch eine physisch erlebbare Irritation im Raum substituiert. (Abb. 3)

Ausstellung Sasso San Gottardo – Passo del San Gottardo, Schweiz

Sasso San Gottardo war eine Erlebniswelt in der ehemaligen Artilleriefestung aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die Ausstellung in der ehemaligen Bunkeranlage von rund zwei Kilometern Länge inszenierte Themen von Nachhaltigkeit, die alle einen Bezug zum Durchgangsort des Gotthardpasses haben. (Abb.4)

Der bis vor wenigen Jahren militärisch genutzte und als geheim klassifizierte Ort ist räumlich so ungewöhnlich, dass bereits der 400 Meter lange Gang bis zur Ausstellung ein Erlebnis darstellte: Dunkelheit, Enge, Feuchtigkeit, Temperatur und Räume aus Granit. In der Ausstellung wurden neueste wissenschaftliche Erkenntnisse mit Ton- und Lichtinstallationen, mit Filmen und Projektionen in reduzierten, einfachen Räumen theatralisch inszeniert. (Abb. 5)

Ein zweiter Teil befindet sich einige hundert Meter weiter und 90 Meter höher. Hier wurden die denkmalgeschützten militärischen Räume so belassen, als ob die Mannschaft gerade beim Mittagessen wäre. Nur ein Monitor in der Mannschaftskantine klärt über die Geschichte der politischen und militärischen Hintergründe für den Bau der Anlage auf.

Forschungs- und Erlebniszentrum Schöninger Speere – Schöningen, Deutschland

Das Besucherzentrum paläon in Schöningen, Niedersachsen war nach der Arche Nebra für uns die zweite Gelegenheit, Geschichten und Szenen nicht nur im Ausstellungsraum zu formen, sondern die Architektur selbst als Träger der Botschaft zu nutzen. Beide Projekte sind aus Wettbewerben für die Architektur hervorgegangen. Das Forschungs- und Erlebniszentrum paläon steht direkt neben dem archäologischen Fundort der darin gezeigten Exponate. Gefunden wurden neben tausenden, teils zerschlagenen Pferdeknochen auch acht Holzspeere, die der Homo Heidelbergensis zur Jagd einsetzte. Es handelt sich dabei um die ältesten je gefundenen Jagdwaffen aus Holz in einem sensationell guten Erhaltungszustand. Der Fund stammt von einem Ereignis an einem Herbsttag vor 300.000 Jahren oder von mehreren Ereignissen in sehr kurzer zeitlicher Abfolge.

Die Aufgabenstellung verlangte ein Gebäude als Landmark, das als Architektur selber starke Ausstrahlung besitzt. Gewohnt, im Kontext mit der Umgebung zu arbeiten, fanden wir uns hier auf einer grünen Wiese außerhalb der Stadt, nahe dem Braunkohleloch, wieder. Es gab weder architektonische Zeugen aus der Prähistorie, noch ließen sich aus den rein funktionalen Fundstücken und Knochensplittern ein künstlerischer Gestaltungswille unserer Vorfahren ableiten. Wir haben uns daher mit ballistischen Flugbahnen auseinandergesetzt und haben eine Verwandtschaft zwischen den Vektoren von oben betrachteter Flugbahnen von Speeren und den Furchen des Braunkohleabbaus entdeckt. Aus diesen Vektoren haben wir das Gebäude und in Zusammenarbeit mit den Landschaftsarchitekten Topotek 1 auch die Landschaft entwickelt. Es sind diese Sicht- und Schussachsen, die das Innere und äußere des Gebäudes formen, die Blickachsen freigeben und die Landschaft als räumlichen Kontext inszenieren. Das Aussehen des Gebäudes sollte sich weder an historisierende Bauten noch an bekannten Bildern von prähistorischer Zeit jüngeren Datums orientieren. Es sollte so abstrakt wie möglich sein und sich möglichst jeder Einordung entziehen. (Abb. 6)

Die umgebende Landschaft von 25 Hektaren Landfläche mit Wildpferden und zwei verschiedenen Landschaftsbepflanzungen aus der Tatzeit verträgt eigentlich gar kein Gebäude. Um die Landschaft zu betonen sollte das äußere des Gebäudes verschwinden, was wir mit einer spiegelnden Fassade, die den Horizont weiterführt gestalterisch umsetzten. In der aufgeschlitzten Haut der Fassade sitzen die Fenster, die im Inneren über durchgehende Sichtachsen Schneisen durch das Gebäude bilden. Das vertikale Foyer nutzt die gesamte Gebäudehöhe und wird dominiert durch die Vektoren der in der Farbe geronnenen Blutes getünchten Treppenhäuser, den Bewegungsachsen des Hauses. (Abb. 7)

Die Ausstellung im zweiten Obergeschoss bezieht sich auf die Zeugnisse der Jagd, die vielen gefundenen Knochensplitter. Die Formen sind aus Schnitten durch ausgebleichte Spongiosa von Beinkochen (den schwammartigen kapselartigen Aufbau von Knochenenden) generiert. Erzählt wird über den Fundort, die Tiere und Pflanzen zu dieser Zeit und die wissenschaftliche Analyse moderner archäologischer Forschung. Eine enorme Pferdeskulptur in der Mitte des Raumes dient einer Thermoplastik des Homo Heidelbergensis als Sitzsockel. Mit einem Pferdeschädel in der Hand ist sein Blick auf den Fundort in Sichtweite gerichtet.

Zum Schluss

Ausstellungen sind komplexe Gebilde, die sich im geschichtlichen, politischen, kulturellen und intellektuellen Kontext bewegen. Sie suchen die physische Auseinandersetzung mit dem Ort und referenzieren über weiche, immaterielle Faktoren auf aktuelle Fragestellungen. Sie blicken immer nach vorne – in die Zukunft. Museen, aber nicht nur sie, nutzen Ausstellungen als Ort der Diskussion. Verstehen, Lernen oder auch Erleben sind dabei nicht nur didaktische Rahmenbedingungen, sondern Mittel, um einen Einstieg in eine zukunftsgerichtete Diskussion zu ermöglichen, die über das eigentliche Thema hinaus relevant ist. Ausstellungen wollen die Welt verändern.

Credits

Fig. 1 Gerücht © Jan Bitter, Fig. 2 Realstadt © Jan Bitter, Fig. 3 Heimatkunde © Jan Bitter, Fig. 4 Sasso San Gottardo © Jan Bitter, Fig. 5 Sasso San Gottardo © Jan Bitter, Fig. 6 paläon © Jan Bitter, Fig. 7 paläon © Jan Bitter