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Eine Suche nach der Generation Expo.02

Essay
Eine Suche nach der Generation Expo.02
von Axel Simon

Vor bald zwanzig Jahren feierte die Schweiz eine verschwenderische Party mit einer neuen Art von Architektur. Eine Suche nach der Generation Expo.02.

Mit der Expo.02 verdampfte die Schweizer Architektur. Die Swiss Box weichte auf, überraschte mit lustigen Formen und bunten Farben. Einen Sommer lang stand ‹Schweiz› nicht mehr für Präzision und Zuverlässigkeit, sondern für Sinnlichkeit und Atmosphäre. Im Dreiseenland stieg eine Riesenparty, ein Volksfest, auf dem alle lächelten und immer die Sonne schien. Die Expo war das Woodstock der Schweiz: zu Lebzeiten lustvolle Geld- und Bilderverschwendungsmaschine sowie Planungsdesaster, eine knappe Generation später ein Mythos. Blickt man heute auf die Bilder von der sechsten Landesausstellung – die auf Papier und die im Kopf –, so erscheint ein Expo-Geist. Ein Geist, der aufbegehrte, der versuchte, alles neu zu erfinden, anders zu machen, auch die Architektur. Verklären wir? Um das herauszufinden, besuchen wir drei Zürcher Architekturbüros, die mit der Planung zur Landesausstellung Ende der Neunzigerjahre in ihre Karriere abhoben. Von ihnen wollen wir wissen: Wie hat sie die Expo geprägt? Und: Wie die Schweizer Architektur?

 

Vehovar & Jauslin


Siebeneinhalbter Stock? Die Lage des luftigen Gruppenateliers in einem Gewerbehaus in Zürich-Altstetten wird nicht das einzige Ungewöhnliche bleiben. Mateja Vehovar und Stefan Jauslin teilen es mit Fotografinnen, Bauleitern und Zimmerpalmen. An der Wand kleben blaue Palazzi und orangene Schafställe. Die Fotos und ein paar unausgepackte Kisten in der Ecke zeugen vom letzten Projekt des Architektenpaars. Am Kunst- und Musikfestival ‹Interferenze› im Bergell hatten sie den Gästen spezielle Glasfilter in die Hand gedrückt. Deren Spiegelbild und das malerische Soglio verschmolzen zu knallbunten Vexierbildern. In seinem Buch ‹Spielwitz und Klarheit. Schweizer Architektur, Grafik und Design 1950–2006› schrieb Claude Liechtenstein, heute sei Form viel eher etwas, was sich in der Aktion des Wahrnehmens herausbilde.

«Das Wahrnehmen ist ein Teil der Form, das Publikum ist der Rolle der applaudierenden Kulisse entwachsen». Was die Expo.02 schön gezeigt habe.

Vehovar & Jauslin gehörten an der Expo.02 zum Planungsteam der Arteplage Yverdon-les-Bains. Unter ihren Zimmerpflanzen erzählen sie euphorisch von den Küchenworkshops, an denen die erste künstlerische Leiterin, Pipilotti Rist, Ideen für die Landesausstellung sammelte. «Dort haben wir den Expo-Geist gesehen.» Für die Wettbewerbe aller vier Arteplages trommelten sie eine internationale Truppe zusammen, denn ihre Erfahrung war so gering wie ihr Anspruch hoch: die Landschaftsarchitekten West 8 aus Rotterdam, Diller & Scofidio aus New York als Medienexperten und Tristan Kobler, damals Ausstellungsgestalter am Museum für Gestaltung in Zürich. Als Gruppe Extasia bekamen sie den Zuschlag für Yverdon und machten aus dem abstrakten Motto ‹Ich und das Universum› ein frivoles Erlebnis. Blumen dufteten aphrodisierend, organische Hügeldächer leuchteten zitrusfarben, und draussen im See dampfte die Ikone der Landesausstellung. «Die Idee mit der begehbaren Wolke kam mir im Innern des Kühlturms von Gösgen während einer Seminarwoche», erinnert sich Mateja Vehovar. Nach ihrem ETH-Diplom hatte sie in New York gelernt, Architektur anders zu denken. Nicht als Objekt, sondern als Ereignis. Stefan Jauslin machte ähnliche Erfahrungen als Assistent an Rudolf Manz’ Video-Lehrstuhl an der ETH Zürich. Die Expo war für beide ein gefundenes Fressen.

Doch die Expo-Leitung setzte das verschwenderische Formenfeuerwerk von Extasia auf Diät. Eine Sparrunde jagte die nächste. «Wir haben achtzig Masterpläne gezeichnet », erinnert sich die Architektin. Mit dem Ergebnis waren sie trotzdem zufrieden, denn die Richtschnur sei die Dramaturgie gewesen. Sie fanden: «Solange die Story lesbar ist, geht’s.» Und sie war lesbar, wie der Publikumserfolg zeigte. Die Stimmung war gut, die Presse schliesslich auch. Und auf den Zugfahrten zurück nach Zürich freuten sich die beiden über die schwärmerischen Gespräche der Besucher. Peter Zumthor schrieb in der ‹Weltwoche› von überraschenden und starken Bildern und der Wolke als Kindertraum.

Von der Expo sei ihnen die Neugierde geblieben, die Offenheit. Neben Yverdon hatten sie auf der Arteplage Neuenburg die Ausstellung ‹Ada, the intelligent space› gestaltet. Später entwickelten sie mit dem Institut für Neuroinformatik von ETH und Uni Zürich eine interaktive Lichtinstallation für die Bahnhofunterführung in Aarau. Auf ihrer Werkliste stehen Architektur- und Städtebauprojekte neben Platzgestaltungen, Stadtlichtplänen oder kuratierte Veranstaltungen und Ausstellungen. Beide engagieren sich stark fachpolitisch, zum Beispiel für offene Wettbewerbe oder die Gleichstellung der Geschlechter. Sie arbeiten zu zweit, aber immer wieder in Kollaborationen. Und es ist wohl kein Zufall, dass ihr bekanntestes Bauwerk, das Dach des Busbahnhofs Aarau, an eine Wolke erinnert.

 

Holzer Kobler

Tristan Kobler spielt mit den Streifen eines Bierfächers. Die Farbtöne von Hellblond (‹Lager›) bis fast Schwarz (‹Stout›) sollen den Besucherrundgang einer Tiroler Brauerei begleiten. Für solche Aufgaben liebt man das Büro Holzer Kobler. Bilderreich erzählt es Geschichten, egal ob in ständigen oder temporären Ausstellungen, ob zu geschichtlichen, wissenschaftlichen oder kommerziellen Themen. Während ihres Architekturstudiums an der ETH waren Barbara Holzer und Tristan Kobler noch ein Paar, an der Expo spielten sie getrennte Rollen: Neben seiner Rolle im Team der Arteplage Yverdon gestaltete Kobler zusammen mit Fabio Gramazio, Rasmus Joergensen und Matthias Kohler auch den Pavillon ‹sWISH*› in Biel, Barbara Holzer die Ausstellungen ‹Heimatfabrik› in Murten und ‹Biopolis› in Neuenburg – an allen Orten herrschte eher künstlerische Bilderfülle als minimalistische Zurückhaltung. Kobler hatte zunächst am Museum für Gestaltung in Zürich gearbeitet, wo auch Holzer einige Ausstellungen einrichtete, unter anderem diejenige über den Architekten Daniel Libeskind. Dieser lockte die Architektin zunächst nach Berlin, später baute sie sein Zürcher Büro auf. 2004 gründeten beide Holzer Kobler Architekturen. «Architekturen», wie um zu sagen: Es gibt mehr als eine.

Die Expo haben sie als «Möglichkeitsraum» in Erinnerung und als «schlaflose Lehrzeit». Ihre heutigen Bauten beschreiben sie als Experimente, die die Grenzen der klassischen Disziplin ausweiten. Ihr Berliner Studierendendorf ‹Frankie & Johnny› aus rostigen Containern zeigt: Narration ist ein Mittel ihrer Architektur. Oder ihre Besucherzentren Nebra und Paläon, die kleine archäologische Funde in der deutschen Provinz touristisch wirksam, also spektakulär erschliessen. Bauen in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie.

Die sechste Schweizer Landesausstellung machte aus der Architektin und dem Architekten Szenografen – eine Berufsgattung, die damals erst erfunden wurde. Bernadette Fülscher schreibt in ihrem Buch ‹Gebaute Bilder – künstliche Welten›, Mitte der Neunzigerjahre habe man parallel zur Expo-Planung die ersten Studiengänge für Szenografie in der Schweiz eingeführt. Wenige Jahre nach der Expo hatten Holzer und Kobler erstmals Gelegenheit, ein grösseres Gebäude szenisch zu denken. In Ebikon versuchten sie sich als «Mall-creators». Den Besuchern des Einkaufszentrums Ebisquare versprachen sie «Entspannung, Verzauberung und Abenteuer» und interpretierten in bunten Bildern Schweizer Landschaften, deren Choreografie alle Sinne ansprechen sollte. Nach langem Leidensweg starb das kommerzielle Erlebniszentrum und wurde ohne die ursprünglichen Verfasser und als herkömmliche Mall gebaut. Es scheint, als sträube sich der Expo-Geist gegen seine Vermarktung.

 

OOS

Oder doch nicht? Christoph Kellenberger spricht von «corporate architecture» und geniesst es sichtlich. «Da kriegt jeder Architekt eine Gänsehaut», sagt der Partner von OOS in Zürich lachend. Von der Hardbrücke aus liest man die an die Bürofenster geklebten drei grossen Lettern, nachts sind sie pink hinterleuchtet. Ein knallviolettes Treppenhaus führt in der ehemaligen Sanitärwerkstatt nach oben. Über dem Gast schwebt ein verspiegelter Kasten, über dessen Nutzen er rätselt. An einem dreissig Meter langen Tisch sitzen die Mitarbeiter von Christoph Kellenberger und Andreas Derrer, und von einer grossen Dachterrasse blickt man auf das benachbarte Schiffautheater. Die Arbeitsteilung der beiden Bürogründer ist klar: Kellenberger, jovial mit Rossschwanz, redet. «Wir bekamen damals von Hochparterre als einzige einen Sechser!» Im August 2002 hatte das Heft die Ausstellungen der Expo.02 bewertet und den Klangturm in Biel an die Spitze gesetzt. Für die Sound-Installation von Andres Bosshard hatten die beiden frisch diplomierten HTL- Architekten eine schräge, im Turm von Coop Himmelb(l)au hängende Kiste geplant. Beim Auftritt des Klangkünstlers klappte sie auf, danach wieder zu. Auf einem Foto sieht man, wie sich ein Sattelschlepper mit dem Objekt millimeterknapp unter einer Autobahnbrücke hindurchschiebt – nachdem man Luft aus den Reifen gelassen hatte. «Wir waren jung und naiv», sagt Kellenberger und lacht.

OOS steht für Open Operating System, ein Begriff aus der IT-Branche. Schon die Expo-Kapsel hatte das Büro digital 3-D-gezeichnet, und heute gehört es zu den BIM-Vorreitern. Alle «designrelevanten Fachdisziplinen», sagt Kellenberger, seien in ihr Büro integriert. «Wir interessieren uns nicht für Architektur per se, sondern für Atmosphäre und Raum. Und für den Konsumenten.» Kellenberger weiss: Provokation beschert Aufmerksamkeit. Alles müsse mit Blick auf die Wirkung gedacht werden. Alles sei Szenografie. Die Fachdiskussion? Interessiere sie nicht. Der Expo- Geist weht über die Dachterrasse, wenn Sätze wie dieser fallen: «Es geht darum, Erlebnisse zu gestalten.» Im Werk von OOS regiert die Szenografie: Vom Showroom eines Weinhändlers über eine Ausstellung im Verkehrshaus bis hin zum Schweizer Pavillon an der Expo in Dubai 2020, der wie eine umgedrehte rote Pyramide erscheint. Auch an den Wettbewerben für die Expo 2010 in Shanghai und für eine Expo 2027 in der Ostschweiz belegte das Büro je einen Platz. Lieber als ein vorgegebenes Programm zu erfüllen, erarbeiten sie selbst eins. Zum Beispiel aus der Frage: Wie arbeiten wir in Zukunft zusammen? Dazu planen sie gerade ein «No-tech-Bürohaus» für einen grossen Hörgerätehersteller. «Die Expo.02 hat unser Mindset mitgeformt», sagt Kellenberger. Sie habe das Feld geöffnet und gezeigt, was ein Architekt noch machen könne. Den Club ‹Exil›, unten im Haus, hat er mitgegründet. Einmal im Jahr, immer freitags vor Weihnachten, schmeisst OOS eine grosse Party. Die sei unter Architekten bekannter als das Büro. Lachen.

 

Ereignis statt Objekt

Die Generation Expo – gibt es sie? Die drei Büros eint einiges: Sie arbeiten meist abseits üblicher Architektenaufträge. Für sie ist Architektur mehr als Hintergrund, produziert nicht Objekte, sondern Ereignisse. Und sie ziehen die Trennlinie zwischen Architektur und Szenografie, Kunst und Kommerz weniger scharf als ihre orthodoxeren Architektenkollegen. Dass sowohl OOS als auch Vehovar & Jauslin einen Swiss Art Award gewonnen haben, ist wohl kein Zufall. Ebenso wenig, dass alle von ihnen am ETH-Lehrstuhl von Marc Angélil assistiert haben, ausser Barbara Holzer. Der kürzlich emeritierte Professor versuchte lange und einsam, die intellektuelle Herangehensweise, wie sie an US-Hochschulen üblich ist, in die Schweiz zu tragen. An der ETH wie in der ganzen Schweiz blieb eine solche Haltung jedoch bis heute marginal. Daran hat auch die Expo nichts geändert. Fragt man unsere sechs Exponenten, ob sie sich als Opposition zur hiesigen Architektenszene empfunden haben, erntet man sechs ähnliche Antworten: ein Statement der eigenen Zeit bauen, ja, aber nicht als Konfrontation. Es sei eher eine Aufweitung gewesen, Öffnung, Ausnahme und Kür. Nichts für die Ewigkeit. Friede. Freiheit.

Der Mythos liess sich Zeit. «Zehn Jahre lang haben alle Auftraggeber gesagt: ‹Aber bitte nicht so wie an der Expo!›», erzählt Kobler. Jauslin erinnert sich: «Sie fragten: ‹Könnt ihr auch seriös?›» Heute, fast zwanzig Jahre später, habe sich das geändert, so Vehovar.

«Wir bekommen viel Lob, dass wir dabei waren.» Die Expo.02 geistert wieder durch die Schweiz.

Autor: Axel Simon | www.hochparterre.ch

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© Beat Widmer